Kinder können radikal ehrlich sein und niemand nimmt es ihnen übel. Bei Erwachsenen sieht das anders aus. Warum Notlügen dennoch sinnvoll sind und welche kindliche Fähigkeit sich unser Kolumnist wünscht – darum geht es im nächsten Teil der Kolumne „Vatertag“.
„Entdecke das Kind in dir“, lese ich im Netz. „Kinder sind die besseren Menschen“, heißt es in den Ratgebern. Die Wahrheit ist aber: Wenn ich heute entscheiden würde, wieder zu leben wie damals als Kind, wäre ich spätestens nach dem Wochenende Frau, Freunde und Familie los. Und das wohl zu Recht.
Radikale Ehrlichkeit kommt unter Erwachsenen einfach nicht so gut an. Bei Kindern lässt man sie vielleicht nicht ohne Widerspruch durchgehen, aber böse kann man ihnen auch nicht sein. Sie sind immer so engelsgleich, bevor sie einem die kalte Schulter zeigen.
Auch unsere Tochter kann mit Zuckerbrot und Peitsche ganz gut umgehen. Faustregel: Wer Zeit fürs Spielen und Sich-Kümmern hat, bekommt ein psychologisches Leckerli. Der andere wird ignoriert oder aus dem Zimmer geschickt, mit anderen Worten: Er oder sie ist es nicht Wert, Zeit mit der „besonderen Königin“ (Eigenbezeichnung) zu verbringen. Es freut mich sehr, dass zumindest die Entwicklung ihres Selbstbewusstseins schon abgeschlossen zu sein scheint. Bleibt mehr Zeit für anderes.
„Radikale Ehrlichkeit“ ist zugleich der Name eines Konzepts des US-amerikanischen Psychotherapeuten Brad Blanton. Statt manipulativ und verlogen, soll man wieder so direkt sein wie ein Kind. Natürlich klingt das in dieser Verkürzung sympathisch. Und es tut ja wirklich gut, einmal genau darüber nachzudenken, wie oft wir Erwachsene sarkastisch oder gar zynisch durchs Leben gehen. Wie oft wir anderen Menschen wirklich ohne Vorurteil gegenübertreten. Wie oft wir das, was wir eigentlich ausdrücken möchten, hinter Floskeln und kleinen Notlügen verstecken.
Aber: Gerade diese sind oft Zeichen der Rücksichtnahme untereinander. Ich finde, dass wir heutzutage mehr Rücksicht bräuchten. So radikal ehrlich zu sein, wie es Blanton vorschlägt, klingt für mich berechnend und kalt – und gerade das sind Kinder gemeinhin nicht.
Es klingt auch nach einem Leben ohne Geheimnisse. Wenn ich schon das Kind in mir entdecken soll, dann wähle ich eher die Fähigkeit, sich immer wieder überraschen und begeistern zu lassen. Zum Beispiel von den bunten Dingen, die meine Tochter in ihren kleinen Schachteln hortet: zauberhafte Geheimnisse.
Von Christopher Resch