Es war einmal in einem Leipziger Gärtchen: ein Mädchen, ihre Freundin und ein etwas außer Form geratener Papa. Das Mädchen und die Freundin wollten spielen, natürlich wollten sie das, und der Papa war zu langsam, um schnell zu verschwinden, also durfte er mitspielen. „Wir spielen Rotkäppchen!“, wurde lautstark gefordert, und der Papa fügte sich in sein Schicksal.
Märchen also. Erstmal durchatmen.
Mein Verhältnis zu Märchen ist ambivalent. Ich war nie nachhaltig beeindruckt von all den Grimm‘schen Storys über forsche Froschkönige, Taler sammelnde Waisenkinder oder Kater mit unangemessen großen Stiefeln. Meine kindliche Neunmalklugheit sorgte wohl dafür, dass ich von der offensichtlichen Realitätsferne – sprechende Tiere! – zu schnell gelangweilt war. Schade eigentlich. Denn wenn heute die Tochter plötzlich Rotkäppchen und der Wolf spielen möchte, weiß ich eigentlich nie genau, was ich zu tun habe.
„Papa, du bist der Jäger!“ – „Äh, ja klar“, sage ich, lege die imaginäre Flinte an und warte auf den Wolf. Selbst bei großzügiger Auslegung des historisch zugrundeliegenden Textes ist das wohl ganz einfach falsch, wie ich an den tadelnden Blicken meiner Tochter sehe.
Dasselbe bei Hänsel und Krötel (sie sagt bis heute immer „Krötel“, was ich so schön finde, dass ich sie nie verbessern werde). „Papa, du bist Krötel!“ Daraufhin ich, vorsichtig: „Knusper, knusper, knäuschen…?“ Tadelnde Blicke der Tochter.
Oder bei den Bremer Stadtmusikanten, wenn ich auf die Frage, welches Tier ich spielen möchte, „das Schwein“ sage. Tadelnde Blicke der Tochter.
Möglicherweise habe ich einfach keinen Sinn für Märchen. Ich habe allerdings ein kleines Geheimnis, von dem bisher kaum jemand weiß. Und das geht so: Als wir damals in einem Leipziger Gärtchen Rotkäppchen spielten, war ich der böse Wolf. Diese Rolle habe ich wohl so mitreißend gespielt, mit fiesem Fauchen und Fressen, dass meine Tochter etwas später zu mir kam, ihre Hand in meine schob und sagte: „Papa, du sollst nie mehr den Wolf spielen.“ Und ich drückte ihre kleine, warme Hand und sagte: „Nie mehr.“
Und wenn ich mich dafür auf ewig als Märchen-Missversteher outen muss.
Von Christopher Resch