Liebe Eltern, liebe Großeltern, liebe Leserinnen und Leser,
viele Jungen und Mädchen ab der 5. Klasse in Sachsen, Deutschland und einigen anderen Ländern schnuppern heute in Berufe hinein, von denen sich mehrheitlich das andere Geschlecht angezogen fühlt. Das Ganze nennt sich
Girls'Day beziehungsweise
Boys'Day. Die Idee ist, Jungen Berufe wie Erzieher, Krankenpfleger und Grundschullehrer nahezubringen, während Mädchen entdecken, wie ihr Arbeitsalltag als Informatikerin, Industriemechanikerin oder Tischlerin aussehen könnte. Aber warum braucht es das überhaupt?
Mädchen haben im Schnitt die besseren Schulabschlüsse und Noten. Trotzdem wählt mehr als die Hälfte aus nur zehn verschiedenen Ausbildungsberufen – darunter: kein einziger naturwissenschaftlich-technischer. In Studiengängen, wie etwa in Ingenieurswissenschaften oder Informatik, sind Frauen deutlich unterrepräsentiert.
Betrachten wir die Jungs: Mehr als die Hälfte von ihnen entscheidet sich für einen von zwanzig Ausbildungsberufen. Und das, obwohl es insgesamt etwa 350 davon gibt. Schätzen Sie mal, wie viele der zehn am häufigsten gewählten Ausbildungsberufe dem sozialen oder pflegerischen Bereich zuzuordnen sind. Hm? Kein einziger.
Warum das problematisch ist? Den Betrieben fehlt der Nachwuchs. Gleichzeitig bleiben junge Menschen auf der Strecke, weil sie sich für völlig überlaufene Ausbildungsberufe bewerben und leer ausgehen. Andere ergattern zwar eine Stelle, brechen die Ausbildung aber vorzeitig ab. Im Durchschnitt aller Wirtschaftsbranchen lag die Abbruchquote laut Datenreport 2021 des Bundesinstituts für Berufsbildung bei einem guten Viertel. Im Handwerk ist sogar jede dritte Lehre betroffen.
Chancengleichheit scheint heute vielen selbstverständlich. „Bei der Berufswahl wird deutlich, dass es weiterhin Faktoren gibt, die eine gleichberechtigte Teilhabe verhindern“, sagt Wenka Wentzel vom Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit. Das Kompetenzzentrum organisiert die Girls'Days und Boys'Days. Soll sich hier nachhaltig etwas ändern, müssen junge Menschen nicht nur gut informiert, sondern möglichst frei von Geschlechterstereotypen Entscheidungen treffen. Dafür werden die Weichen schon in ganz jungen Jahren gestellt.
„Die Spielewelt weist Jungen und Mädchen Kompetenzen zu. Mädchen sind für Verschönerung zuständig, pflegen und erziehen. Die Jungs bewegen sich in einer technischen Welt“, kritisiert etwa Dr. Stevie Schmiedel, Gründerin der Initiative „Pinkstinks“, in einem Artikel der Bundesagentur für Arbeit. Den Ursprung des Problems sieht sie in der Werbung:
„Werbung ist kein Spiegel der Gesellschaft, sie zementiert tradierte Rollenbilder, die sich seit Jahrzehnten in der Berufs- und Studienwahl finden.“
Dabei ist eine geschlechtstypische Studien- oder Berufswahl nicht per se schlecht, wie Christine Schramm-Spehrer in dem Artikel erklärt. Sie ist Berufsberaterin im Hochschulteam und Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt bei der Arbeitsagentur:
„Wenn eine Wahl passend zu den Interessen und Fähigkeiten getroffen wird, ist das wunderbar. Problematisch wird es, wenn junge Menschen aus Mangel an Informationen einfach überholte Bilder und Vorstellungen übernehmen und sich so Wege verschließen.“
Unterschiedliche Interessen rühren im Ursprung von der Person her, nicht vom Geschlecht. Es liegt also an uns als Eltern, an den Großeltern, an den Erziehern und Lehrkräften, an der Gesellschaft an sich, die Heranwachsenden anzuschauen in ihrem ganzen Sein. Stärken und Schwächen zu erkennen und zu fördern. Und ihnen dabei zu helfen, die für sich, und nur für sich passende Entscheidung zu treffen. Basierend auf Informiertheit. Frei von Stereotypen. Frei von fremden Erwartungen und äußerem Druck. Der Girls'Day und der Boys'Day können ein hilfreicher Baustein sein. Aber eben nur einer von vielen.
Herzlichst,
Ihre Patricia Liebling
Redakteurin LVZ Familie